2005
Der Freund
Die menschliche Figur ist ein klassisches Thema in der europäischen Kunst. Der Körper ist unverkennbar ein wunderliches und reizvolles Phänomen, das sich seiner Idealisierung nicht leicht entzieht. Mehr noch ist die “menschliche Figur” zur Vorstellung dessen geworden, wie sich der Mensch als ‘corpus abstractum’, als Idee, einem Ort und einer Funktion in der Welt zuschreibt. Aufeinander folgende Strömungen in der Kunstgeschichte haben eine lange Reihe narrativer Konstruktionen geschaffen, die verdeutlichen, womit der Mensch sich verbindet, wovon er sich löst, welche Erfahrungen er beschreiben kann und welchen er Form verleihen will. Die Vorstellungen von “der menschlichen Figur” prägen die Identität des Menschen und sind in gewissem Sinne sein Alibi für diese Auffassung des Seins.
Die menschliche Figur in der Arbeit von Henk Visch ist manchmal das Modell eines Handelnden, manchmal Stellvertreter einer Gruppe, die sich noch nicht zu erkennen gegeben hat. Aber wir können seine Figuren auch als Abbild des Bewußtseins selbst sehen, das sich unvorstellbare Dinge dennoch vorzustellen vermag. Es gibt Geschichten und Erzählungen, in denen sich viele semantische Welten öffnen. Eine von der Vorstellung unterstützte Terminologie kann einen mächtigen Prozeß von Namengebung, Definition und Identifikation auslösen.
In der Vorstellung von der „menschlichen Figur“ geht es darum, die Realität aus dem Blickwinkel der Vorstellung heraus zu erkennen, die man sich davon gemacht hat. Dieser Umweg stellt indirekt eine Möglichkeit dar, das Konzept des Individuums, eingebettet in gesetzmäßige und theologische Traditionen, in Beziehung zu den Erfahrungen des Lebens selbst zu setzen – und umgekehrt.
Wir sehen eine Figur, die halb im Mantel dasteht: zieht sie den Mantel an oder zieht sie ihn aus? Wir wissen es nicht. Das eine ist ebenso möglich wie das andere. Der Mantel läßt ihren Umriß erkennen und verleiht ihr Farbe. Er verbindet auf diese Weise die Figur mit der Wahrnehmung, daß sie sich draußen befindet. Die sie umringende Welt sehen wir nicht, aber diese Isolation macht die Figur umso deutlicher sichtbar: Die Zeichen der sie umgebenden Wirklichkeit sind wie ein um sie gewobener Mantel und sie hüllen sie ein. Die Welt ist ein halbes Kleid, das sie mit einem Bein in die Welt stellt, mit ihr verbindet, ohne sich in ihr aufzulösen.
Vasily Wells, Petersburg, 2005
Weitere Informationen bei: www.henkvisch.nl